Pünktlich um zehn Minuten vor acht hielt Geralds Taxi vor dem Eingang des Gymnasiums Tannenhof. Vom Beifahrersitz aus lächelte Vanessa ihren Vater kurz und herzlich an: „Tschüss Papa, bis heute Abend". „Tschüss, viel Spaß in der Schule", rief Gerald seiner Tochter hinterher, die schon halb aus dem Auto ausgestiegen war. Sie gab der Autotür einen Stoß, drehte sich noch kurz um und winkte ihrem Vater, während sie schon mit zügigen Schritten auf den Eingang der Schule zuging, zusammen mit vielen anderen Kindern, die zu dieser Zeit in das Schulgebäude strömten. Gerald schaute seiner Tochter hinterher, voller Stolz trug sie das neue, auffällige neongrüne Schul-T-Shirt, welches jeder Schüler bekommen hatte, der am Schullauf letzte Woche teilgenommen hatte - die Strecke des Laufes war immerhin zehn Kilometer lang gewesen. Gerald war stolz auf seine fast siebzehnjährige Tochter, die mit großen, selbstbewussten Schritten erwachsen wurde und die erste in der Familie sein würde, die ihr Abitur machen würde. Dem stand so gut wie nichts im Weg.
Ebenso stolz war Gerald auf sich selbst, seit fünf Jahren, also seitdem seine Tochter auf dieses Gymnasium gewechselt ist, brachte er sie pünktlich um zehn vor acht zur Schule. Unter seinen Kollegen und Kunden war er für seine Pünktlichkeit bekannt, und wenn der Tag wie fast jedes Mal pünktlich und ohne Stress begann, dann konnte es nur ein guter Tag werden.
Bevor er den Fuß von der Bremse nahm, um sich wieder in den fließenden Verkehr einzufädeln, startete er die Taxi-App auf seinem Handy und bestätigte seiner ersten Kundin, dass er auf dem Weg zu ihr war. Immer mittwochs musste Frau Korchardt zur Tagesklinik gebracht werden, wo sich jemand um die alte Frau kümmerte. Gerald kannte sie seit Jahren, es war Teil seiner Mittwochs-Routine. Gerade vormittags hatte er viel ältere Kundschaft, die zum Arzt gefahren werden musste, oder später von dort aus wieder zurück nach Hause.
Besonders viel Verkehr war heute nicht zu erwarten, und so würde er überpünktlich bei Frau Korchardt in etwa 12 Minuten ankommen, ein Blick auf seine Taxi-App bestätigte ihm dies.
Kurz bevor Gerald von der Hauptstraße nach rechts in das Viertel, in dem sich sein Ziel befand, abbiegen wollte, sprang die Ampel einige Autos vor Gerald von orange auf rot, und die Blechkarawane kam langsam zum Stehen. Gerald in dritter Reihe vor der Haltelinie. Plötzlich sprangen wie aus dem Nichts junge Menschen in orangefarbenen Warnwesten und mit Transparenten von links und rechts auf die Straße und fingen an, den Fußgängerweg über die Ampel, vor der Gerald und einige andere Autos warteten, zu blockieren. Es ging ruck-zuck: Einige der jungen Menschen riefen Parolen, andere entfalteten ein Plakat, andere setzten sich auf die Straße und fingen an, ihre Hände mit Sekundenkleber einzuschmieren und anschließend fest auf die Straße zu drücken. Gerald konnte nicht alles ganz genau erkennen, weil vor ihm ein kleiner Transporter eines Lieferdienstes stand, aber er wusste auch so, was jetzt los war. Die Proteste der Gruppe, die sich die „Letzte Generation" nannte, waren überall in den Medien, bislang kannte Gerald sie auch nur aus den Medien, nun wurde er selber Zeuge und war unmittelbar betroffen.
Die Ampel sprang auf grün, aber nichts bewegte sich. Von weiter hinten fingen Autos an zu hupen, bis es sich zu einem regelrechten Konzert steigerte. Weiter vorne wurden die Fenster der Autos runtergemacht, und vereinzelte pöbelnde Köpfe reckten sich aus den Fahrzeugen. Gerald ließ auch sein Fenster runterholen und beugte sich aus dem Fenster. Es war ein großer Lärm: das Hupen der Autos, das Pöbeln der Fahrer und dagegen das Megaphon von einem der Demonstrierenden. Die einzelnen Worte waren nicht zu verstehen, und der Lärm steigerte sich immer weiter. Gerald konnte in seinem Rückspiegel beobachten, wie hinter ihm einige Fahrer aus ihren Autos stiegen, um zu schauen, was vorne los ist. Er schaute nach links. Ein silberner Kleinwagen stand neben ihm, auch gefangen vor der grünen Ampel. Darin eine alte Frau mit grauen Haaren, vermutlich genauso alt wie seine Kundin, zu der er jetzt sicherlich nicht mehr pünktlich kommen würde. Sie saß dort ganz seelenruhig. Als sie Geralds Blick bemerkte, huschte ein leichtes, entschuldigendes Lächeln über ihre Lippen. Im gleichen Moment schaltete sie den Motor ihres Wagens aus, schaute wieder geradeaus und lehnte sich zurück in ihren Fahrersitz.
Gerald konnte es nicht glauben, diese Frau hatte die Ruhe weg. In ihm kam langsam Ärger hoch. Er bemerkte, wie er zornig wurde. Wie können sich diese Leute einbilden, dass sie hier einfach alle blockieren können? Das bringt doch nichts! Gerald machte sein Fenster auch runter und reckte seinen Kopf ins Freie, um besser an dem Transporter vorbeisehen zu können. Im gleichen Moment ging die Fahrertür des Transporters vor ihm auf, und ein schimpfender Mann trat heraus. Er ballte die Fäuste und rief den Blockierern etwas entgegen, er schien sehr aufgebracht. Aggressiv brüllte der Mann nach vorne, langte zurück in sein Auto und ließ seinen gesamten Frust in einem langen Hupen raus. Gerald konnte die Wut des Mannes fühlen, sie verstärkte seine eigenen Gefühle, und auch er haute mit aller Wucht auf sein Lenkrad und lies seine ganze Frustration beim Hupen heraus.
In den Lärm aus wütendem Geschrei, Megaphon-Parolen und Dauerhupen mischte sich ein neuer Lärm vom hinteren Ende des Staus: die langsam lauter werdende Sirene eines Polizeiwagens, der sich offensichtlich versuchte, einen Weg durch den entstandenen Stau zu bahnen.
Die Ampel sprang über Gelb zurück auf Rot, die Kopffarbe des Fahrers des Kleintransporters änderte sich in eine sehr ähnliche Farbe, während er immer weitere Hasstiraden herausbrüllte und sich langsam von seinem Transporter auf Leute mit den Transparenten zubewegte. Davon angestachelt schnallte sich Gerald auch ab, öffnete die Tür und stellte sich neben sein Auto. Er war jetzt richtig böse. Noch nie ist ihm so etwas passiert, noch nie ist er zu spät gekommen.
Der Mann aus dem Transporter war jetzt bei den Menschen, die auf der Straße saßen, angekommen und brüllte ihnen seine Frustration direkt ins Gesicht. Diese reagierten darauf überhaupt nicht und schauten einfach in eine andere Richtung und ließen sich anbrüllen. Das provozierte den Fahrer des Transporters umso mehr und mit einer schnellen, kraftvollen Bewegung riss er das Plakat aus den Händen der beiden Personen, die mit einer Hand angeklebt auf der Straße saßen und mit der anderen das Plakat zwischen sich gespannt hatten. Das Plakat landete zusammengeknüllt auf der Straße. Weitere Personen kamen nun an Gerald vorbei und liefen wütend, brüllend auf die Protestierenden zu. Gerald folgte langsam, seine Wut wurde größer, je näher er den Demonstrierenden kam.
Zu seiner Linken hatte ein anderer Mann den Demonstrierenden mit dem Megaphon erreicht und schrie ihn aus nächster Nähe an. Unbeeindruckt davon rief dieser eine neue Parole in sein Megaphon und richtete dies direkt auf den Autofahrer vor ihm. Das war wohl zu viel, und der Mann riss das Megaphon aus der Hand des Demonstrierenden und schubste ihn nach hinten. Der Demonstrierende kam ins Straucheln und fing an, sich zu wehren, ein kleines Handgemenge entstand, andere Demonstrierende eilten zur Hilfe, um das Handgemenge zu schlichten.
Der Mann aus dem Transporter schrie einige Schritte vor Gerald immer noch auf eine der jungen Frauen ein, die sich auf der Straße festgeklebt hatte. Das gesamte Lärmkonzert war ohrenbetäubend, als Gerald unmittelbar hinter dem Mann zum Stehen kam. Er wusste auch nicht so richtig, was er hier vorne wollte. In dem Moment lief der Mann aus dem Transporter um die junge Frau herum und packte sie von hinten unter den Armen und fing an, sie hochzuziehen. Unter Schmerzen schrie die junge Frau auf, als sie brutal von der Straße hochgehoben wurde, ihre linke Hand noch immer fest mit dem Asphalt verklebt. Sie fiel auf ihre linke Seite, als der Mann sie wieder losließ und weiter auf sie einbrüllte. Gerald war völlig perplex, er wusste gar nicht, was hier gerade geschieht und was er hier wollte. Als der Mann aus dem Transporter einen erneuten Anlauf nahm, um die junge Frau aufzurichten und wegzuziehen, riss ihre orange Warnweste auf. Darunter kam ein neongrünes T-Shirt mit der Aufschrift „Gymnasium Tannenhof - Finisher“ zum Vorschein. Gerald verharrte wie angewurzelt, während die junge Frau wieder vor Schmerzen schrie, als der Mann aus dem Transporter erneut versuchte, sie wegzuziehen. Geralds Wut wuchs ins Unermessliche. Er lief auf den Mann zu und während er ihn wegstieß, rief er: „Ey, lass sie in Ruhe!“. Der Mann landete auf dem Boden und schaute Gerald erstaunt an. Ebenso erstaunt über sich selbst blickte Gerald dem Mann ins Gesicht und anschließend in das ebenfalls erstaunte Gesicht der jungen Frau. Ihre Blicke trafen sich, der Lärm schien für einen kurzen Moment zu verschwinden und es gab nur diesen verwirrten Blickkontakt zwischen Gerald und der jungen Demonstrantin.
Gerald wurde wieder aus dem Moment gerissen, als von der rechten Seite ein Polizeiauto direkt hinter den demonstrierenden Menschen auf der Kreuzung zum Stehen kam und zwei Beamte gleichzeitig aus ihrem Fahrzeug sprangen und sofort anfingen, eine menschliche Barrikade zwischen den Demonstrierenden und der aufgebrachten Menge der Autofahrer zu bilden. Gerald drehte sich zurück zu seinem Taxi und ging langsam ein paar Schritte zurück. Blickte noch einmal zurück und die Blicke der jungen Frau und ihm trafen sich erneut für einen kurzen Moment. Gerald wandte sich wieder ab und ging verschämt und nachdenklich zurück zu seinem Taxi. Kurz bevor er an seinem Auto ankam, blickte er zum silbernen Auto der alten Frau. Auch ihre beiden Blicke trafen sich und die Frau schüttelte ganz leicht den Kopf, bevor sie den Blickkontakt abbrach und demonstrativ in eine andere Richtung schaute.
An seinem Taxi angekommen, blickte sich Gerald noch einmal um, bevor er sich wieder in sein Auto setzte. Die Szene schien sich zu beruhigen, mehr Polizei war eingetroffen und ordnete die Situation. Gerald setzte sich in sein Taxi, machte die Tür zu und ließ das Fenster hochfahren. Er wollte jetzt alleine sein und brauchte Ruhe zum Nachdenken.