Rafael war mit der Frau seines Vaters um 15:00 in einem Hotel in der Nähe des Bahnhofes verabredet. Natürlich war er wie immer etwas zu früh dran, traute sich noch nicht reinzugehen und wanderte in der warmen Mittagssonne vor dem Hotel auf und ab. Seit dem Tod seines Vaters hatte er dessen Frau nur noch unregelmäßig gesprochen, vorher hatten sie durch die wöchentlichen Besuche bei seinem Vater mehr Kontakt, viel miteinander zu besprechen hatten sie allerdings nie. Er wußte, dass er dieser Frau eigentlich dankbar sein müsste, dass sie sich so intensiv um seinen Vater in den vergangenen Jahren seiner Krankheit gekümmert hatte, aber er war auch zerrissen. Immerhin war diese Frau schuld dran, dass die bis dahin gekannte Familienidylle auseinandergerissen wurde.
Nun war es 15:00 Uhr, er kam nun nicht mehr drum herum in das Hotel reinzugehen. Er schritt auf die Türen zu die sich vor ihm automatisch öffneten. Kurz blieb er stehen, seine Augen mussten sich an die Dunkelheit im Vergleich zu der strahlenden Umgebung draußen gewöhnen, die kühle Luft der Klimaanlage traf ihn wie eine Wand. Er blickte sich kurz um und entdeckte die Frau seines Vaters an einem Tisch in der Lobby, ein weiterer fremder Mann saß mit ihr am Tisch und hatte einen Aktenstapel vor sich liegen, wie er ihn auch von seinem Vater kannte. Als sich ihre Blicke begegneten, sprang die Frau seines Vaters auf und kam mit schnellen Schritten auf ihn zu, sie gaben sich eine leichte Umarmung:
„Schön das du da bist, Raffa. Wie geht es dir?"
„Ja, danke, ach es geht so", sagte Rafael, er wußte nicht genau was er sagen sollte und fügte hinzu: „Geht es dir gut?"
„Ach, ess muss ja. Ich vermisse deinen Vater doch sehr und es ist jetzt so viel zu tun, dass ich gar nicht so richtig dazu komme traurig zu sein, weißt du."
„Ja", sagte Rafael. Die Frau seines Vaters machte eine Geste und deutete zum Tisch, woraufhin der Mann am Tisch sich erhob: „Das ist Dr. Trautmann, ein Kollege - nein", sie atmete schwer durch: „ein ehemaliger Kollege deines Vaters. Ich habe ihn mitgebracht falls Fragen aufkommen, er hat mir bei all den Sachen geholfen die jetzt gemacht werden müssen."
„Ok" antwortet Rafael und lief die wenigen Schritte auf Dr. Trautmann zu um ihm die Hand zu schütteln.
„Mein Beileid", sagte dieser und schaute Rafael beim Händeschütteln in die Augen.
„Danke"
„Möchtest du etwas trinken?" Erkundigte sich die Frau seines Vaters bei Rafael.
„Vielleicht, einfach ein stilles Wasser", sagte Rafael. Rechtsanwalt Dr. Trautmann fing an sich umzublicken um den Blick eines Kellners zu erhaschen, die beschäftigt durch die volle Lobby liefen, währenddessen herrschte Still am Tisch. Rafael schaute betreten auf seine Hände die auf dem Tisch lagen, endlich kam ein Kellner herüber und Dr. Trautmann sagte: „Ein Wasser bitte für den jungen Mann und einen Kaffee für mich, schwarz bitte."
„Alles?", fragte der Kellner während er die Bestellung notierte.
„Ja, das ist alles", sagte die Frau von Rafaels Vater.
„Kommt sofort", entgegnete der Kellner, lächelte professionell in die Runde und ging.
„Wie du ja weißt", fing die Frau seines Vaters an, „hat dein Vater ein Testament geschrieben und es bei uns zu Hause aufbewahrt. Es ist nicht besonders lang, weil dein Vater mich als Alleinerbin eingesetzt hat. Das bedeutet, dass dir der Pflichtteil zusteht, aber hier sind darüber hinaus noch einige Sachen für dich geregelt.". Sie zog ein handschriftlich beschriebenes Stück Papier hervor, „Natürlich habe ich für dich eine Kopie", sagte sie und schob es Rafael rüber. Rafael schaute auf das Papier, es war die Handschrift der Frau seines Vaters, die er gut von diversen Weihnachts- und Geburtstagskarten kannte. Sie hatte also offensichtlich das Testament aufgeschrieben, unterschrieben war es aber mit der unverkennbaren Unterschrift seines Vaters. Das Datum deutete darauf hin, dass es in der Spätphase der Alzheimererkrankung seines Vaters entstanden ist.
„OK, kann ich mir das kurz durchlesen, wenn das in Ordnung ist?", fragte Rafael.
„Ja, natürlich, nimm dir alle Zeit die du brauchst", sagte die Frau seines Vaters schnell.
Unter den Blicken des Dr. und der Frau seines Vaters fingen seine Augen hektisch an, sich an den einzelnen Punkten des Testaments festzuhalten, seine Hände zitterten unter dem Tisch, er konnte sich nicht richtig konzentrieren und fing immer wieder von vorne an. Er atmete einmal tief durch und begann noch einmal von vorne zu lesen: „Ich, Fernando Hernandez, geboren am 28.09.1947 in Bremen, setzte im Fall meines Todes meine Frau Pia Hernandez, geboren 11.03.1961 in Dresden als alleinige Erbin ein".
Rafaels Konzentration wurde unterbrochen als der Kellner dem Dr. seinen Kaffee - schwarz - und ihm sein Wasser - sprudelnd - vorsetzte. Ein wenig genervt begann Rafael sich erneut auf den handschriftlichen Text in seinen Händen zu konzentrieren.
„Wenn du Fragen hast, dann bin ich hier um sie zu beantworten", warf der Anwalt ein.
„Ja, alles klar", murmelte Rafael und konzentrierte sich auf die wenigen Punkte des Testaments.
Nach einer Weile sagte er: „Ok. Wieso steht mir der Sekretär denn zu? Wieso steht denn das so genau da drin?", erkundigte sich Rafael.
„Dein Vater hat mir das damals so diktiert, weil du als Kind wohl sehr gerne an dem alten Sekretär gesessen hast und daran gespielt hast. Daran hat er sich erinnert und wollte deswegen, dass du das Möbelstück bekommst", antwortete die Frau seines Vaters.
„Ich möchte einmal erläutern, was es bedeutet, dass du den Pflichtanteil bekommst", versuchte der Dr. das Gespräch zu strukturieren. „Der Pflichtanteil bedeutet, dass du 50% des Gesamterbes erhältst. In den letzten Wochen habe ich viele Unterlagen deines Vaters durchgesehen und wir kommen auf eine Summe von insgesamt einhunderttausend Euro. Das beinhaltet alle Wertpapiere die dein Vater noch hatte, die vermietete Wohnung am Tennisplatz und natürlich das Geld was sich auf den Girokonten befand.
„Das bedeutet, dass dir also insgesamt eine Summe von fünfzigtausend Euro zusteht, zusätzlich zu den extra aufgelisteten Sachen wie der Sekretär, die Flugzeugmodelle und sein PC".
„Ok und das bekomme ich dann auf Mein Konto überwiesen, oder wie läuft das?", fragte Rafael.
„Du kannst natürlich auch gerne die Wohnung haben, die ist auch ungefähr fünfzigtausend Euro wert", schaltete sich die Frau seines Vaters in die Unterhaltung etwas hektisch ein, „ganz wie du möchtest".
„Nee, nee, das ist schon ok", entgegnete Rafael etwas überfordert von den hohen Summen mit denen er so noch nie in seinem Leben zu tun hatte. „Den Sekretär will ich aber eigentlich nicht, wo soll der denn hin?", fragte Rafael.
„Du, ich kann den auch gerne erst mal bei mir behalten und du kannst ihn dir holen, wenn du ihn später doch noch haben willst. Als Andenken oder so, oder wenn du die Modellflugzeuge abholst. Willst du die denn? Und den Computer?"
„Ja, doch die will ich unbedingt gerne haben. Also, wenn du sie nicht willst."
„Nein, die möchte ich nicht haben, damit kann ich nichts anfangen"
„Gut, ok", sagte Rafael.
„Gibt es denn sonst noch Fragen?", fragte der Rechtsanwalt an Rafael gewannt.
„Hmmm, ich weiß nicht", sagte Rafael.
„Ich kann dir ja noch mal erklären, was jetzt die nächsten Schritte sind", sagte der Rechtsanwalt im ruhigen Tonfall.
Er fuhr fort: „Du musst hier auf diesem Papier ankreuzen und unterschreiben, dass du das Erbe annimmst. Ich habe auch noch eine Seite dazugelegt wo du dann deine Kontoinformationen aufschreiben kannst, dann kann dir das Geld direkt überwiesen werden", der Rechtsanwalt reichte Rafael zwei weitere Seiten Papier und einen Kugelschreiber.
„Ok, ich will das Erbe annehmen, dann kreuze ich das hier an und unterschreibe hier, richtig?"
„Ja genau, richtig"
„Welches Datum haben wir heute?"
„Den vierten Mai"
„Ok, dann haben wir das hier. Einen Moment. Ich muss meine Kontonummer nachschauen", sagte Rafael und zog umständlich sein Portemonnaie heraus und versuchte dort seine EC-Karte zu finden. Der Anwalt schlürfte von seinem Kaffee. Er übertrug die Informationen von der Rückseite der Karte auf das Blatt Papier und reichte es zurück an den Anwalt, der seine Tasse geräuschvoll zurück auf die Untertasse stellte.
„Gut, dann wären damit die Formalitäten soweit erledigt", sagte der Dr. zufrieden und nickte auch der Frau von Rafaels Vater zu, die sichtlich erleichtert zu sein schien. Rafael nahm einen kleinen Schluck von seinem Sprudelwasser, der Dr. schlürfte wieder an seinem Kaffee.
„Wann möchtest du denn dann die Flugzeuge bei mir abholen?", fragte die Frau von Rafaels Vater.
„Ja, also ich weiß nicht. Ich glaube das schaffe ich nicht so schnell. Ist es ok, wenn die noch eine Weile bei dir stehen bleiben?"
„Ja, kommt drauf an wie lange. Ich würde nämlich dann doch recht schnell all die Sachen loswerden. Es sind ja auch noch ganz viele Bücher von deinem Vater da, vielleicht möchtest du da noch einmal durchschauen? Ich möchte sie nämlich nicht haben."
„Ach so, ja, da möchte ich gerne noch mal durchschauen.", sagte Rafael. Er überlegte und sagte: „Vielleicht kann ich in drei Wochen kommen, also das letzte Maiwochenende?"
„Ja, kein Problem, das kann ich einrichten", sagte die Frau seines Vaters zu ihm. „Möchtest du jetzt noch etwas gemeinsam Essen?", kam die Frage noch hinterher.
„Nein danke", sagte Rafael.
„Gut, ich glaube dann würde ich auch so langsam wieder nach Hause fahren", sagte die Frau seines Vaters und nickte dem Rechtsanwalt zu, der nahm den Ball auf: „Der Weg ist ja auch noch recht weit, hoffentlich kommst du gut durch. An einem Samstag kann es ja recht voll auf den Straßen sein", versuchte der Anwalt die Situation durch etwas Smalltalk aufzulockern.
„Ok, ich mach mich dann auch auf den Weg", sagte Rafael und stand von seinem Platz am Tisch auf. Er streckte dem Rechtsanwalt seine Hand aus und sagte: „Dann auf wiedersehen und vielen Dank für ihre Hilfe", sie schüttelten die Hände.
„Gern geschehen Rafael, wenn du noch irgendwelche Fragen hast, dann melde dich gerne bei mir. Hast du meine Nummer?"
„Nein", antwortete Rafael woraufhin der Rechtsanwalt eine Visitenkarte aus der Innentasche seines Sakkos hervorholte und Rafael reichte.
„Danke", sagte Rafael und wendete sich in Richtung der Frau seines Vatars.
„Ok, dann tschüss und bis bald", sagte er zu ihr, während er ihr eine leichte Umarmung gab. Er hätte ihr so viel noch sagen wollen.
„Ja, tschüss Raffa, wir schreiben dann noch mal wenn du die Sachen abholen willst, ok?"
„Ok", sagte Rafael, „Tschüss". Er nahm seine Kopie des Testaments in die Hand. Mit einem verlegenen Winken in Richtung der beiden bewegte sich Rafael in Richtung des Ausgangs, seine Schritte beschleunigten sich je näher er dem Ausgang kam.
Die Schiebetür öffneten sich und Rafael trat in das helle Sonnenlicht. Erleichtert atmete er durch, setzte sich seine Sonnenbrille auf und ging in Richtung seines Fahrrads davon.