Das Loch im Gehirn

„Ich muss schnell aus diesem Meeting raus, sonst kippe ich um. Puh, noch 30 Minuten. Kann ich so lange noch dem Monolog von meinem Chef zuhören?", dachte sich Mustafa als er das ihm bekannte Gefühl in seiner Magengegend und in seinem Kopf spürte. Es fühlt sich so an als würde der Magen langsam aufsteigen, seine Sicht verengt sich und es fühlt sich im Kopf so an als würde ich ein schwarzes Loch im Gehirn langsam ausbreiten. Genug, das ist ungewöhnlich für ihn: „Tschuldigung, ich geh raus, mir geht's nicht gut." Damit klappt er seinen Laptop zu, steht vom Stuhl auf und begibt sich aus dem Raum, die anderen Meeting-Teilnehmer bleiben etwas erstaunt zurück. Gerade hatte Mustafa doch noch vor der kompletten Belegschaft einen Vortrag gehalten?

Der Weg den Büroflur entlang, zurück zum Platz fällt Mustafa schwer, die Knie werden weicher bei jedem Schritt, das schwarze Loch im Gehirn breitet sich schneller aus. In seinem Büro angekommen legt er sich erst einmal flach auf den Boden, Beine angewinkelt auf einen vor ihm stehenden Stuhl. Er kennt seinen Körper, er weiß was hilft. Blut muss ins Gehirn, Augen schließen und tief durchatmen, zur Ruhe kommen. Früher, als er noch ein Kind war und sein Kreislauf so abschmierte gab ihm seine Mutter immer ein Stück Würfelzucker, welches sie auf einem Löffel in einen Kaffee tunkte. Das hat ihn damals immer wieder nach Vorne gebracht.

Wie er da so auf dem Boden liegt hofft er, dass keiner von seinen Kollegen zufällig ins Büro reinkommt und ihn dort liegen sieht. Auch wenn er es gut findet, dass andere Leute ihre Hilfe anbieten weiß er ganz genau, dass er in solchen Ausnahmesituationen am liebsten auf sich allein gestellt ist und die Dinge mit sich selber regelt.

Nach einer Weile geht es ihm besser, das schwarze Loch ist wieder kleiner geworden und die Umwelt seines Büroraumes strömt wieder in seinen Kopf: das Fenster ist leicht geöffnet, gut so. Die Sonne scheint, draußen zwitschern ein paar Vögel, es sind die ersten Anzeichen vom Frühling nach diesem langen, stressigen Winter. Er ist sich sicher: das war der Döner von gestern Mittag, er hat es schon gestern am Nachmittag gespürt. Diese plötzliche Schwere in den Augen als er sich intensiv mit seinem Kollegen und Freund Axel unterhalten hat. Die leichte Übelkeit in der Nacht die er weggeschluckt hat. Alles nichts neues für ihn. Er ekelt sich, wenn er an den Döner denken muss.

Es hilft nichts, irgendwie muss er nach Hause kommen. Bevor er aufsteht überlegt er kurz: das Fahrrad steht in der Tiefgarage, oder doch lieber mit U-Bahn oder Moia fahren? Da ist aber die Gefahr zu groß das er sich übergeben muss. Schon als Kind war er kein guter Autofahrer und wenn der Kreislauf dann auch noch so im Keller ist kommt eins zum anderen. Außerdem ist das Wetter schön, die Luft und die leichte Bewegung des Radfahrens wird ihm gut tun.

Er rappelt sich auf, packt seinen Laptop und sein Notizbuch in seinen Rucksack, zieht sich die Jacke über und geht zum Hinterausgang hinaus, geradewegs in die Tiefgarage zu seinem Fahrrad. Er möchte von niemandem gesehen oder angesprochen werden.

Als er aus der Garage ins Freie fährt, atmet er tief durch. Die Luft ist schön und er fängt mit leichtem Tritt an zu fahren. Wie gut, dass der Heimweg von seinem Büro größtenteils leicht bergab geht. Die leichte Bewegung tut ihm gut und innerlich beglückwünscht er sich für seine Entscheidung aus dem Meeting zu gehen und sich aufs Fahrrad zu setzen.

Normalerweise ist Mustafa ein zügiger Radfahrer, doch heute gehört er zu denjenigen die überholt werden, an der Alster kann es aber auch schnell gefährlich auf dem Radweg werden, so ganz klar im Kopf ist er nach wie vor nicht, deswegen genießt er das langsame Fahren und fühlt sich sicher.

Mustafa an einer Ampel halten muss merkt er, wie sein Kreislauf langsam wieder in den Keller geht, das Loch im Gehirn wächst wieder, die Beine werden schwerer und der Magen steigt langsam wieder Richtung Hals. Es sind doch aber nur noch ein knapper Kilometer bis nach Hause, immer nur Geradeaus! Fuck, er fängt an sich umzusehen nach einer Möglichkeit sich wieder auf den Boden zu legen, mit einer Bank davor um die Füße wieder hochzulegen. Aber er findet nichts. Hier ein Eiscafé, die Leute sitzen draußen, aber seine Unlust sich von anderen helfen zu lassen und sich erklären zu müssen ist zu groß. Trotzdem hält er neben dem Eckcafé an. Er fährt in die Nebenstraße hinein, stoppt sein Fahrrad, nimmt seinen Rucksack ab, legt sich vor den Rucksack und versucht seine Beine so gut es geht auf dem Rucksack zu platzieren. Nicht ideal, aber wenigstens liegen die Beine etwas höher. Er schließt die Augen, das Loch in seinem Kopf ist jetzt sehr groß, was um ihn herum passiert bekommt er nicht mehr mit.

Einige Fußgänger gehen an Mustafa vorbei so wie er dort liegt. Keiner sagt etwas. Einerseits ist Mustafa froh darüber, andererseits ist er aber auch empört. Sieht es etwa so aus als würde er auf dem Gehweg liegen und die Sonne genießen? Egoistenpack.

Mustafa stellt fest, dass es ihm wieder besser geht, wenn er über solche Dinge schon wieder nachdenken kann. Er öffnet die Augen, sieht hoch oben am Himmel ein Flugzeug über sich fliegen, es zieht Kondensstreifen hinter sich her. Kurz denkt er an die Idioten die an Chemtrails glauben und er fragt sich aber, ob die Kondensstreifen von den Flügeln, oder von den Höhenrudern des Flugzeugs erzeugt werden? Ok, wenn solche Gedanken wieder möglich sind, dann schafft er es jetzt auch nach Hause. Er rollt sich auf die Seite und steht langsam auf, setzt den Rucksack wieder auf und schwingt sich auf den Sattel. Keiner hat Hilfe angeboten. Egoistenpack. Er würde das natürlich anders machen wenn er so jemanden wie sich auf der Straße finden würde. Natürlich.

Mustafa tritt in die Pedale: lieber hoher Gang und mit Kraft schneller voran kommen, oder niedriger Gang und mehr Bewegung für die Beine? Er kann sich nicht entscheiden und merkt wie das Loch in seinem Gehirn doch gar nicht so klein geschrumpft ist. Jetzt muss er sich beeilen um nach Hause zu kommen. Noch ein bisschen geradeaus fahren, zwei mal um die Ecke und dann ist er da.

Gerade bevor Mustafa denkt er schafft es nicht, kommt er vor seiner Haustür an, steigt vom Fahrrad, schließt es mit letzter Kraft an, geht durch die Haustür in den Fahrstuhl und fährt in den zweiten Stock hoch. Endlich geschafft.

Er schließt die Wohnungstür auf, schmeißt seinen Rucksack in die Ecke, lässt die Jacke von seinen Armen auf den Boden gleiten und kickt seine Schuhe von den Füßen. Die Hoste noch aus und dann ab ins Bett.

Als er sich hinlegt ist er erleichtert. Er merkt wie ihm furchtbar kalt ist und er am ganzen Körper zittert. Fieber also auch noch. Definitiv der Döner von gestern, der war nicht gut. Er zieht sich erst eine, dann zwei Decken über, sinkt in seine Kissen, erleichtert, dass er den Weg geschafft hat, schließt die Augen und atmet tief durch. Er lässt jetzt zu, dass das Loch in seinem Gehirn schneller größer wird, es gibt jetzt keinen Grund mehr es zu bekämpfen, er ist angekommen. Zu Hause.

Mustafa liegt am Boden.
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Veröffentlicht: März 2025