Barfuß am Meeresgrund

Franziska stoppte ihr Auto, nahm ihr Handy in die Hand - keine neuen Nachrichten - und schaltete den Wagen aus. Die Stille nach der Autofahrt ließ ihre Ohren rauschen. Der Gurt schnappte zurück, beim Aussteigen wanderte ihr Blick über den kleinen Parkplatz. Ein paar Autos standen da, aber es waren keine Leute zu sehen. Die Sonne schien, Schönwetterwolken hingen tief und zogen, vom böigen Nordwind angetrieben, rasch über den Himmel. Es war eine angenehme Temperatur, der perfekte Tag, um sich am Meer zu entspannen.

Zum Entspannen war sie aber nicht hier. Sie brauchte diese Flucht, um in Ruhe nachdenken zu können. Das Ziel war aber noch nicht erreicht, noch war sie nicht an dem Ort, an dem sie gut nachdenken konnte. Sie schloss die Autotür zu, blickte erneut auf ihr Handy - keine neuen Nachrichten - ging um das Auto herum zum Kofferraum und entnahm ihm den Rucksack. Franziska blickte auf den Deich, der sich vor ihr erhob. Es war immer wieder eine kleine Überraschung, wenn man oben angekommen war, was auf der anderen Seite zu sehen war. Natürlich hatte sie sich vorbereitet. Dennoch checkte sie jetzt noch einmal die Gezeiten-App auf ihrem Handy. Der Höhepunkt der Ebbe war vor einer halben Stunde erreicht.

Während sie die ersten Schritte in Richtung Deich ging, verschloss sie das Auto und erreichte schon bald die Deichböschung. Sie öffnete das Gatter, das die Schafe davon abhalten sollte, ihren Mähbereich zu verlassen. Weit und breit waren keine zu sehen. Seitlich ging sie den asphaltierten Weg am Deich hoch. Die Sonne hatte den Weg schon gut aufgeheizt, die aufsteigende Hitze war spürbar hier hinter dem Deich, wo sich kein Lüftchen regte.

Auf der Deichkrone blieb Franziska stehen und atmete durch. Hier oben war ein frischer Wind zu spüren, der vom Meer aus wehte. Vor ihr lag das Wattenmeer, flach und fleckig durch die Schatten der Sommerwolken auf der weiten Fläche, die sich scheinbar bis zum Horizont ausbreitete. Die Nordsee flimmerte in der Ferne, kaum auszumachen. Wie weit mochte es bis zum Meer sein? Fünfhundert Meter? Tausend? Hundert? Fünftausend? In diesem Moment verließ Franziska ihr Mut, ihr Plan schien zu verwässern, sie kam sich doof und verloren vor. Wieso war sie diesen weiten Weg gefahren, um nachzudenken? Hätte sie das nicht auch auf ihrem Balkon tun können? Eigentlich war ihr Leben immer geradlinig verlaufen, die Dinge ergaben sich, sie hatte selten das Gefühl, sie könnte den Lauf der Dinge durch Entscheidungen beeinflussen. Alles war für sie eigentlich immer klar gewesen, das Bauchgefühl hatte immer gewusst, wohin es sie führt. Ein Abwegen von Alternativen kannte sie nur aus Büchern oder Filmen. Was sollte diese Fahrt jetzt also? Wieso sollte sie den beschwerlichen Weg durch das Watt gehen? Sie fühlte in sich hinein: Kannte sie die Antwort auf ihre Frage in Wirklichkeit schon? Was war überhaupt ihre Frage? Sollte sie sich von ihrem Verlobten trennen? War das wirklich noch eine Frage, nach allem, was passiert war? Gab es noch einen Weg zurück?

Während Franziska über das Watt in die Ferne blickte, veränderte sich das Licht über dem Meer. Die Formation der Schönwetterwolken war weiter gezogen und ließ das Meer glitzern, es war nun ganz klar in der Entfernung zu erkennen. Die Veränderung ließ Franziskas Zweifel über die Richtigkeit ihres Weges durch das Watt vergessen, auf einmal war ihr klar: Sie wollte - nein - sie musste durch das Watt zum Meer.

Mit neuem Mut, Klarheit und Leichtigkeit setzte sich Franziska wieder in Bewegung und nahm den Asphaltweg an der Außenböschung des Deichs hinunter, dorthin, wo die sandigen Salzgräser auf den kurzen Rasen des Deichs treffen.

Unten angekommen löste sie die Schleifen ihrer Schuhe, zog diese samt Socken aus und überlegte kurz, was sie damit machen sollte. Sie entschied sich, sie einfach hier stehen zu lassen, ihre alten Sneaker würde schon niemand klauen. Franziska krempelte ihre Jeans bis zu den Knien hoch und wagte den ersten Schritt.

Der Sand unter ihren Füßen war weich, warm und trocken. Es fiel ihr nicht ganz so leicht, in ihm voran zu kommen. Sie bahnte sich einen Weg durch die Inseln der Gräserbüschel, die mit jedem Meter, dem sie sich dem Meer näherte, weniger und weniger wurden. Nach einigen dutzend Schritten wurde der Sand etwas fester unter ihren Füßen und ihr Tritt war sicherer, sie kam schneller voran. Der Sand war geformt von den Wellen, die alle sechs Stunden das Land zum Meeresgrund machten. Ein seltsamer Ort zwischen Wasser und Land. War sie jetzt schon am Ziel? Durfte sie sich jetzt erlauben, über „das“ nachzudenken, weswegen sie hergekommen war? Oder war es noch nicht so weit?

Während sie in der Bewegung darüber nachdachte, fingen die Schritte unter ihr an zu patschen. Jeder Schritt ließ ihre Füße mit sonnenerwärmtem Wasser in Berührung kommen. Das warme Wasser fühlte sich gut an. Franziska richtete ihren Blick nach vorne. Dort in der Ferne, wo sie das Meer vermutete, sah sie flimmernde Gestalten wandern. Weit weg, nur schemenhaft erkennbar. Liefen diese Menschen direkt vorne an der Waterkant? Waren diese Menschen schon am Ziel? Sie wirkten klein, die Beine verschwanden im Flimmern der warmen Luft. Auch das Meer war wieder vom Flimmern verschluckt.

Der Boden unter ihren Füßen wurde mit jedem Schritt weicher. Erst sank Franziska beim Aufkommen nur mit den Hacken ein. Bald schon hinterließ sie komplette Fußabdrücke hinter sich, die sich schnell mit Wasser füllten. Dieses Wasser war ganz anders, gar nicht mehr so warm und angenehm, sondern kühler. Franziska blieb stehen und blickte hinter sich auf die Spur ihrer Fußabdrücke, die langsam in der Ferne verschwanden und ganz und gar keine gerade Linie bildeten, sondern sich willkürlich schlängelten. Sie erinnerte sich an die Klassenfahrt, damals in der 10. Klasse. An die Wattwanderung, wo der alte Seebär ihnen gezeigt hatte, wie gefährlich das Watt bei Nebel ist. Man geht im Kreis, erreicht niemals sein Ziel, bis die Flut kommt und einen holt.

Sie schüttelte die Gedanken ab, drehte sich wieder Richtung Meer und beschleunigte ihren Schritt. Etwas weiter zu ihrer Rechten waren lange Holzstäbe in den Wattboden gerammt worden. Nicht nur hilfreich bei Nebel, sondern auch jetzt für Franziska, um auf dem geradlinigsten Weg an ihr Ziel zu kommen.

Schon bald änderte sich der Untergrund wieder. Der Sand wurde noch weicher, noch feuchter, war nun aber auch übersät mit kleinen Türmchen der Wattwürmer. Nach ein paar weiteren Schritten stand Franziska plötzlich vor einem Priel, der ihren Weg kreuzte. Sie blieb stehen und betrachtete das Wasser, es floss von rechts gen Meer. Sie setzte einen Fuß in den Priel und versank augenblicklich bis zu den Knöcheln. Erstaunlich kaltes Wasser presste sich mit unerwartet hohem Druck gegen ihre Wade. Sie gab dem Druck nach, zog ihren eingesunkenen Fuß aus dem Sand und stieg auch mit ihrem anderen in den Priel. Sie folgte dem Wasser. Es floss zu ihrem Ziel.

Nicht nur das Wasser um ihre Füße war kälter geworden, auch der Wind war kühler und rauer geworden. Franziska fröstelte. Hinzu kam, dass die Sonne von einer Wolke verdeckt wurde. Franziska schaute nach rechts, wo sie immer noch das Meer in weiter Ferne flimmern sah. Irgendwie kam sie ihrem Ziel nicht näher. Führte dieser Priel überhaupt zum Meer? Gab es nicht auch Priele, die einfach parallel zum Meer verliefen? Enthielt dieser Priel gar kein ablaufendes Wasser, sondern handelte es sich um wieder auflaufendes Wasser?

Franziska trat aus dem Priel gen Meeresseite hinaus. Erst jetzt, da sie wieder warmen, wässrigen und festen Sand unter ihren Füßen spürte, merkte sie, wie kalt ihre Füße geworden waren. Der plötzliche Temperaturunterschied ließ ihre Zehen schmerzen. Was für eine Schnapsidee, im Priel zu gehen. Franziska schaute sich um, entdeckte die Reihe der Pfähle - weiter weg als vorhin - und orientierte sich neu. Das Meer konnte nun nicht mehr weit sein, war da nicht schon ein Wellenrauschen in der Entfernung zu hören? Mit neuer Energie setzte sie ihren Weg fort.

Das Meer war nun bald klar zu erkennen, das Rauschen der brechenden Wellen lud dazu ein, schneller zu gehen. Nur noch einige dutzend Schritte entfernt, sie hatte es fast geschafft. Im gleichen Moment vernahm sie ein Brummen in ihrem Rucksack, ihr Handy teilte ihr mit, dass sie eine neue Nachricht hatte. Aus Reflex blieb Franziska stehen, streifte ihren Rucksack ab und kramte nach ihrem Handy. Als sie es vor sich hielt, leuchtete das Display auf und sie konnte auf dem Sperrbildschirm die Vorschau einer Nachricht sehen. Von ihrem Verlobten: "Kita hat angerufen, Fynn soll abgeholt werden, Bauchschmerzen. Ich hab den ganzen Tag noch Meetings."

Wie versteinert starrte sie auf ihr Handy, bis das Display wieder dunkler wurde und sich nach kurzer Zeit wieder ganz ausschaltete. Franziska hob den Kopf, schaute auf die nahen Wellen, fühlte den nassen, kalten Sand unter ihren Füßen und den Wind, der ihr von der Seite salzig und kühl ins Gesicht blies. Das Rauschen der brechenden Wellen übertönte alles. Regungslos verharrte sie in der Pose, Handy in der Hand, Blick auf das Meer.

Plötzlich wurde sie aus ihrer Lähmung gerissen. Das Handy in ihrer Hand fing an zu vibrieren, jemand rief sie an. Sie senkte den Blick wieder auf das Display. Ein Bild aus vergangenen Zeiten erschien darauf. Ein lächelnder, junger Mann. Es war der Mann, in den sie sich verliebt hatte, der Mann, mit dem sie eine Familie gegründet hatte, der Mann, mit dem sie ihre Zukunft geplant hatte. Es war der Mann, der jetzt nicht mehr der Gleiche war. Der Mann, der sagte, er würde alles für seinen kleinen Sohn tun - aber ihn offensichtlich jetzt nicht aus der Kita abholen konnte. Der Mann, dessen Meetings dann doch wichtiger waren.

Das Handy hörte auf zu vibrieren, das Display leuchtete noch einmal kurz auf - "1 verpasster Anruf", bevor es sich wieder verdunkelte. Nach ein paar Augenblicken erwachte Franziska aus ihrer Starre, holte tief Luft, als hätte sie lange nicht geatmet, steckte das Handy wieder zurück in den Rucksack, setzte diesen wieder auf und richtete ihren Blick fest zum Meer. Jetzt verzogen sich die Wolken, das Meer glitzerte, wie das Mittelmeer im Urlaub. Sie spürte die salzige Luft in ihrer Nase, schloss die Augen und setzte einen Fuß nach vorne, dann den anderen. Erst langsam, dann immer schneller und entschlossener. Sie wollte jetzt endlich das Meer erreichen, aber eigentlich war das nicht mehr wichtig. Ihr Entschluss stand fest.

Die Sonne schien ihr ins Gesicht, der Wind erfrischte sie, der Sand unter ihren Füßen wurde an dieser Stelle, kurz vor dem Meer, wieder fest aber kühl. Sie liebte das Gefühl der Elemente. Das Rauschen der Wellen, das hier war Freiheit. Auf ihrem Gesicht machte sich ein Lächeln breit.

Barfuß am Meeresgrund
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Veröffentlicht: Juli 2025